10 Jahre „Denken ohne Geländer“ - Natan Sznaider am 25. Januar im TdA
Am 27. Januar 2025 jährt sich die Befreiung des Konzentrations- und Vernichtungslagers Auschwitz
zum 80. Mal. Und zum 10. Mal laden anlässlich dieses Tages die Hochschule Magdeburg-Stendal, das Theater der Altmark und die Landeszentrale für politische Bildung zu einem vielfältigen Programm im Rahmen der Woche „Denken ohne Geländer“ nach Stendal ein.
Es beginnt am 25. Januar 2025 mit einem öffentlichen Festakt im TdA, zu dem Franziska Weidinger, Ministerin für Justiz und Verbraucherschutz Sachsen-Anhalt, in Vertretung des Ministerpräsidenten erwartet wird. Den Abschluss bildet am 9. Februar ein Vortrag über jüdische Emigration nach Shanghai. Dazwischen sind u.a. Lesungen, Vorträge, Gespräche, Gedenkveranstaltungen, Ausstellungen, eine Theaterpremiere, ein Konzert mit Dota Kehr, Filmvorführungen und ein Zeitzeugengespräch zu erleben.
Die Geschichte von „Denken ohne Geländer“ fängt 2016 mit engagierten Studierenden der Hochschule Magdeburg-Stendal und einer aus Versicherungsgründen geplatzten Ausstellung zu antisemitischen Aufklebern an. Statt frustriert aufzugeben, boten die jungen Leute ihr geplantes Begleitprogramm trotzdem als Veranstaltungswoche an. Den Titel dafür liehen sie sich von der politischen Theoretikerin Hannah Arendt. Was als einmaliges Ereignis gedacht war, entwickelte sich innerhalb der vergangenen zehn Jahre zu einer regionalen Institution mit überregionaler Ausstrahlung.
Jüdische Perspektiven und deutsch-jüdisches Gespräch
„Ausgangspunkt war, zu überlegen, wie man an den Nationalsozialismus und insbesondere den Holocaust erinnern und das mit dem Nachdenken über die Nachgeschichte und über unsere Gegenwart verbinden kann“, sagt Professorin Katrin-Reimer Gordinskaya von der Hochschule Magdeburg-Stendal. Ihr ist es dabei besonders wichtig, Persönlichkeiten einzuladen, die dazu aus jüdischen Perspektiven beitragen. Zum öffentlichen Festakt am 25. Januar um 18 Uhr kommt mit Natan Sznaider ein bedeutender zeitgenössischer Denker ins Theater der Altmark. Er schreibt zu
Antisemitismus, zum Verhältnis der Erinnerung an Holocaust und Kolonialismus und zum Dilemma jüdischen Lebens zwischen Partikularismus und Universalismus. Natan Sznaider wurde 1954 in Mannheim als Sohn von Shoah-Überlebenden aus Polen geboren. Seit 1994 lehrt er als Professor für Soziologie an der Akademischen Hochschule in Tel Aviv.
„Wir werden darüber reden, inwieweit ein deutsch-jüdisches Gespräch möglich war und ist, wann es begann, einseitig wurde und abbrach“, so Katrin Reimer-Gordinskaya. Damit nimmt sie auf ein Zitat von Hannah Arendt Bezug, das als Leitgedanke über „Denken ohne Geländer“ 2025 steht: „Im Gespräch manifestiert sich die politische Bedeutung der Freundschaft und der ihr eigentümlichen Menschlichkeit.“ Es stammt aus Arendts Rede „Von der Menschlichkeit in finsteren Zeiten“ anlässlich der Verleihung des Lessing-Preises an sie – als erste Frau und Jüdin – 1959 in Hamburg.
Jüdischer Alltag in der DDR, darunter Freizeiten für Kinder in Glowe, wird in einer Interviewsammlung des Jüdischen Museums Berlin nachvollziehbar. Ein Teil dieser Video-Dokumente ist vom 28. Januar bis zum 8. Februar in der Stadtbibliothek Stendal zu sehen. Der Historiker Dr. Lutz Fiedler, der schon mehrfach bei „Denken ohne Geländer“ zu Gast war, beschäftigt sich in seinem Eröffnungsvortrag am 28. Januar um 16.00 Uhr mit Hoffnungen, Enttäuschungen und Neuorientierungen jüdischer Remigranten, ihrer Kinder und Enkel bis zum Umbruch 1989/90.
Auf der Suche nach der Wahrheit
Das Theater der Altmark gestaltet die Veranstaltungsreihe seit zehn Jahren mit. Für Intendantin Dorotty Szalma ist es das zweite Jahr. Als sie nach Stendal kam, war sie „absolut begeistert von der Bereitschaft, der Gefahr des Vergessens zu widerstehen und die Aufarbeitung, die in Deutschland so großgeschrieben wird, wirklich praktisch zu tun und nicht nur darüber zu reden“.
Mit der Premiere des Schauspiels „Rishi“ am 1. Februar um 19.30 Uhr im Amtsgericht Stendal bringt das TdA ein Grundsatzthema ins aktuelle Programm ein. „Das Theaterstück erzählt, dass es keine einfachen Wahrheiten auf der Welt gibt. Wenn man glaubt, alle Fakten zu kennen, kann man sich sicher sein, das tut man nicht“, sagt Dorotty Szalma.
Neben dieser Premiere ist das Theater 2025 mit zwei weiteren Veranstaltungen vertreten. Gerichtsreporterin Raquel Erdtmann kommt am 26. Januar um 18.00 Uhr mit ihrem Buch „Joseph Süßkind Oppenheimer – Ein Justizmord“ (2024) ins Kleine Haus. Um die wahre Geschichte dieses Menschen zu erzählen, der 1738 nach einem Scheinprozess in Stuttgart hingerichtet und zu einer Symbolfigur des Antisemitismus wurde, arbeitete sie sich akribisch durch acht Meter historische
Prozessakten aus dem 18. Jahrhundert. Am 28. Januar um 19.30 Uhr widmet sich TdA-Dramaturg Roman Kupisch einem Zeitdokument, das 2021 unter dem Titel „Von den Nazis trennt mich eine Welt. Tagebücher aus der Inneren Emigration 1933 – 1939“ neu erschienen ist. Darin beschreibt der Germanist, Schriftsteller und Übersetzer Hermann Stresau (1894-1964), wie sich Deutschland und sein persönliches Umfeld „inmitten eines geistigen Terrors“ verändern.
Das Vermächtnis der Zeitzeug*innen
Während mit Hermann Stresau ein Zeitzeuge über die Literatur zu Wort kommt, gibt es bei der Gedenkveranstaltung der Hansestadt Stendal und der Landeszentrale für politische Bildung Sachsen-Anhalt in Kooperation mit dem Maximilian-Kolbe-Werk die Gelegenheit, einem Überlebenden der nationalsozialistischen Verfolgung persönlich zu begegnen. Nach der bewegenden Veranstaltung im Vorjahr mit Henriette Kretz ist am 2. Februar um 10.00 Uhr Mieczysław Grochowski, geboren 1939 in Pommern, zu Gast in der Katharinenkirche. Schon als Vierjähriger war er den menschenunwürdigen Lebensbedingungen im Internierungs- und Arbeitslager Lebrechtsdorf-Potulitz ausgesetzt.
In Bildungsangeboten für Kinder und Jugendliche hält die Landeszentrale für politische Bildung Sachsen-Anhalt darüber hinaus das Vermächtnis der 2024 verstorbenen Batsheva Dagan lebendig.
„Fragt heute!“ forderte die Psychologin und Autorin, die als junge Frau das KZ Auschwitz überlebte. Im Mittelpunkt eines Workshops für Schüler*innen ab Klasse 9 steht ein gleichnamiger Film, der sie beim Besuch der Gedenkstätte Auschwitz mit einer Magdeburger Schulklasse begleitet. Ein Angebot für jüngere Schüler*innen dreht sich um Batsheva Dagans Geschichte „Chika, die Hündin im Ghetto“. Es ist eines von mehreren Büchern, in denen sie Kinder altersgerecht an das Thema Holocaust heranführt. (Die Workshops sind bereits ausgebucht. Schulen aus der gesamten Altmark konnten sich bewerben.)
Mit einem Konzert der bekannten Singer/Songwriterin Dota Kehr mit vertonten Texten der von den Nationalsozialisten verfemten jüdischen Dichterin Masha Kaléko bringt die Landeszentrale darüber hinaus ein eindrucksvolles literarisches Zeugnis in das Programm ein und sie beteiligt sich zudem an der Gala zum 10-jährigen Jubiläum des Projektes. Dota Kehr kommt am 31. Januar um 20.00 Uhr gemeinsam mit Gitarrist Jan Rohrbach in die Stendaler Katharinenkirche.
„Für die Landeszentrale für politische Bildung ist ,Denken ohne Geländer‘ ein herausragendes Best-Practice-Projekt. Gemeinsam mit den Akteuren in der Region sprechen wir Menschen unterschiedlicher Generationen und Prägungen an, erinnern aktiv an die nationalsozialistische Terror-Herrschaft, aber auch an jüdisches Leben und jüdische Kultur, und schlagen den Bogen in die Gegenwart – das macht dieses Projekt so wertvoll“, so Cornelia Habisch, stellvertretende Direktorin der Landeszentrale für politische Bildung Sachsen-Anhalt.
Engagierte Partner*innen in der Region
Nicht möglich wäre die langjährige Wirkung von „Denken ohne Geländer“ ohne die zahlreichen Partnerinnen und Partner in der Region, die eigene Veranstaltungen einbringen, ihre Räume öffnen, sowie die Werbung und den reibungslosen Ablauf des Programms auf vielfältige Weise unterstützen. Einen Wechsel gab es in diesem Jahr bei der Projektträgerschaft: die Freiwilligen-Agentur Altmark e.V. übernahm den Staffelstab von der Altmärkischen Bürgerstiftung.
Zu den langjährigen Mitwirkenden, die auch 2025 wieder dabei sind, gehören die Gedenkstätte Feldscheune Isenschnibbe u.a. mit einer Gedenkveranstaltung und einer Ausstellungseröffnung und die Geschichtswerkstatt Stendal e.V. mit einer Ausstellung und einem Vortrag zur jüdischen Emigration nach Shanghai. Dafür kommt am 9. Februar mit Prof. Dr. Kevin Ostoyich ein weltweit gefragter Referent zum Holocaust ins Café „Bohne & Praline“. Außerdem initiierte die Initiative „Herz statt Hetze“ eine Veranstaltung zum Projekt „Trialog“ am 4. Februar in der Kleinen Markthalle. Das besondere Gesprächsformat betrachtet den israelisch-palästinensischen Konflikt aus der Perspektive beider Seiten.
Das komplette Programm von „Denken ohne Geländer“ 2025 mit weiterführenden Informationen gibt es unter www.denken-ohne-gelaender.de.
Programm-Flyer liegen an verschiedenen öffentlichen Stellen aus, u. a. im Theater der Altmark, im
Stendaler Rathaus und in der Kleinen Markthalle.
Text: Edda Gehrmann